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(Un-)Sicherheiten

Noch vor gut einem Jahr hat wohl niemand damit gerechnet, dass die Themen „Flucht und Migration“ wieder so brisant und präsent in Köln sein würden. Doch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 brachte die Herausforderung mit sich, einerseits kurzfristig Unterstützung für Menschen in der Ukraine und auf der Flucht in den anliegenden Ländern auf den Weg zu bringen und andererseits die Aufnahme vieler Geflüchteter aus der Ukraine zu organisieren, die nach Köln kamen und nach wie vor kommen.

Viele evangelische Gemeinden haben tatkräftig dabei geholfen und auch bei uns in Nippes gab es diverse Spendensammlungen, wurden Hilfstransporte organisiert und viele Menschen aus unserer Gemeinde nahmen ukrainische Geflüchtete bei sich auf.

Einmal mehr wurde deutlich, dass Flucht-bewegungen ein bleibendes Merkmal unserer Zeit sind. Die Beschäftigung mit dem Thema macht deutlich, dass Über-gangsphasen immer wieder Teil der Lebenswirklichkeit sind, während unsere Bilder vom Ankommen und Fertigsein sich oft nicht aufrechterhalten lassen. Die Menschen, die aus anderen Ländern, wie der Ukraine, Albanien, Iran und Irak, Syri-en und Afghanistan zu uns kommen, kom-men nicht freiwillig. Auch sie wären lieber schon längst „angekommen“, wären lieber in ihrem Zuhause geblieben, hätten sich dort etwas Bleibendes aufgebaut. Doch das war für sie nicht möglich, weshalb sie sich auf oft lebensgefährliche Fluchtwege machen und in der Ferne – hier bei uns – ganz von vorne anfangen müssen. Die Menschen mit aktuellen Fluchterfahrungen sind Teil unserer Gesellschaft, sie sind Teil von Nippes. Sie bringen ihre Perspektive ein, die bereichernd und wichtig auch für die anderen ist: Woher kommen die Sicherheiten in unserem Leben? Was bedeutet es, wahrzunehmen, dass vieles, was wir gerne für sicher halten möchten, eben doch nicht sicher ist? Wie kann ein Leben gelingen, das Abbrüche, große Unsicherheiten und komplette Neuanfänge bewältigen muss? 

Auch in anderen Lebensbereichen machen sich Unsicherheiten bemerkbar. Die Thematik „Ängste“ war in diesem Jahr so häufig Gesprächsthema bei den Anrufen bei der TelefonSeelsorge wie noch nie zuvor. Der Klimawandel wurde auch im vergangenen Sommer mit großer Hitze und un-eindämmbaren Bränden deutlich spürbar. Und das, während die Menschen im Ahrtal immer noch mit den verheerenden Folgen der Flutkatastrophe des letzten Jahres kämpfen, die viele Existenzen vernichtet hat. Vermeintliche Sicherheiten der letzten Jahrzehnte schwinden auch hier. Die Auswirkungen der menschengemachten Klimakatastrophe kommen ganz nah und lassen insbesondere jüngere Menschen fragen: Wie kann unsere Zukunft angesichts dessen überhaupt noch aussehen?

Diese Frage stellt sich gesamtgesellschaftlich und für viele auch ganz konkret für die persönliche Lebensgestaltung. Manche Sicherheiten, die für viele aus den älteren Generationen galten – wie lebenslang beruflich in derselben Institution zu arbeiten oder sich durch Ansparen irgendwann Wohneigentum kaufen zu können – sind für die nachfolgenden Ge-nerationen keineswegs mehr sicher. Viele junge Familien hier in Nippes müssen sich entscheiden, ob sie hier mit den Vorteilen und Freiheiten der urbanen Strukturen wohnen wollen, und dafür in kleineren Mietwohnungen bleiben, oder ob sie die Innenstadtnähe aufgeben, um sich in den Randbezirken oder auch ganz in anderen Städten mehr Wohnraum, Eigentum oder einen Garten leisten zu können.

Und auch in der evangelischen Kirche in Köln und im Rheinland stellen wir uns die Frage, wie evangelische Kirche und Diakonie auch in Zukunft gesellschaftlich relevant bleiben, bei weniger Ressourcen und finanziellen Sicherheiten.

AnIn vielen Lebensbereichen und gesellschaftlichen Kontexten wird deutlich, dass wir uns immer wieder bewegen und neu aufmachen müssen. Wie kann es gelingen, dass wir uns dieser Wirklichkeit in unserem Alltag und in unserem Leben stellen? Es braucht vermutlich ein Abschiednehmen von den alten Bildern von Sicherheit und Beständigkeit, die wir in vieler Hinsicht in uns tragen und auch als Gesellschaft etabliert haben. Ein Ab-schiednehmen, das auch dem Trauern um diese – nicht haltbaren – Bilder und Wünsche Raum gibt. Und vielleicht kann es ja helfen, uns dabei auf die ganz alten Bilder zu besinnen: Die biblische Erzählung, die die Grundlage des jüdischen und des christlichen Glaubens darstellt, ist die Erzählung einer Flucht, eines langen, unsicheren Weges und eines kompletten Neuanfangs. Gott befreit das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten – in einer Nacht-und Nebel-Flucht. Gott begleitet die Menschen auf sehr verschlungenen und oft mühevollen Wegen durch die Wüste und ist dabei, als sie schließlich im neuen Land von vorne anfangen. Gott ist ein beweglicher Gott. Ein Gott, der, so die biblische Sprache, „seine Wohnung bei den Menschen“ hat. In den langen Jahren, in denen die Israelit:innen in der Wüste unterwegs sind, tragen sie das sogenannte „Zelt der Begegnung“ mit sich. An jedem Ort, an dem sie Station machen, wird es aufgebaut und macht für alle sichtbar: Gott ist dabei. Gott wandert mit. An jeden neuen Ort. In jede neue Situation. Das ist die Sicherheit, die bleibt, während sonst alles anders wird.

Und auch Jesus lebt ein unstetes Leben. Er ist Wanderprediger, hat keinen festen Wohnort. Was er hat, ist eine unerschütterliche Gewissheit, dass Gott ihm nahe ist, überall und jederzeit. Und eine Gemeinschaft von Menschen, die sich davon berühren lassen, ihn in ihre Häuser einladen oder sich mit ihm auf den Weg machen. Auch hier gilt: Sicherheit geben die Beziehungen und die Gemeinschaft. Die mit Gott und die mit den anderen Menschen.

Vielleicht sind es die ganz alten biblischen Bilder und Sicherheiten, die wir uns für heute wieder lebendig machen können und die uns stärken können, beweglich zu werden für die Ungewissheiten, die Aufbrüche und die Neuanfänge, die anstehen.

Miriam Haseleu