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MEHR ALS BÜCHER

 

Beim ersten Mal habe ich mich erschrocken: Da klaffte diese Lücke im Bücherregal. Am Tag vorher hatte ich hier vier neue Bücher reingestellt, und nun war keins davon mehr da.

Die Bibliothek im Wohnzimmer des „WinHaus International“ umfasst inzwischen so an die 150 Bücher. Wie so vieles im WiNHaus sind sie einfach da. Für alle zugänglich. Sie können aus dem Regal genommen, an Ort und Stelle gelesen, ausgeliehen und wieder zurückgestellt werden. Kontrolliert wird das von niemandem. 

Und nun fragte ich mich, ob das ein Fehler war. Die Bücher, die ich neu besorgt hatte, stammen alle aus der Feder von Rafik Shami, dem syrischen Autor, der schon so lange in Deutschland lebt und anschaulich nicht nur das Leben seiner Kindheit in den Gassen von Damaskus, sondern auch die kulturellen Besonderheiten seiner deutschen Mitbürger (wie den Nudelsalat) schildert. Sie jeweils auf Deutsch und auf Arabisch zu bekommen, war gar nicht so einfach gewesen. Und nun waren sie alle verschwunden und ich war erschrocken.

Doch einige Zeit später trudelten die Bücher wieder ein, eins nach dem anderen. Und dann verschwanden sie wieder. Und so geht es seitdem. Manche Bücher stehen wirklich selten im Regal. Aber ich erschrecke mich nicht mehr. Im Gegenteil: Ich freue mich, dass sie gelesen werden. Dafür sind sie schließlich da. Sie können dazu helfen mehr von der Kultur der anderen zu erfahren. Sie können ein kleines Stück Heimat schaffen: einfach einmal wieder eintauchen in ein Buch in der eigenen Muttersprache. Oder man nutzt sie zum Deutsch lernen. So wie Rajeef: „Ich nehme das hier für ein oder zwei Wochen mit. Ich bin halt eine echte Leseratte.“ Rajeef grinst. Er hält ein Taschenbuch in der Hand und erklärt mir seine Lieblingsmethode zum Deutschvokabeln Lernen: Bücher lesen, die ihn interessieren. Und die Vokabeln, die er nicht kennt, nachschlagen und aufschreiben, damit er sie sich einprägt.

Die Bücher im WiNhaus sind sorgfältig ausgesucht und zusammengestellt. In erster Linie für die Geflüchteten, aber auch für alle anderen, die das WiNHaus nutzen und sich dort engagieren. Viele Sprachlernbücher sind dabei, einige Bildwörterbücher, auch die eine oder andere Grammatik. Und auch Kinderbücher, von Astrid Lindgren zum Beispiel und Erich Kästner. Kochbücher der internationalen Küche für die diversen Kochevents. Ein großer Weltatlas, in dem man sich gegenseitig zeigen kann, wo man aufgewachsen ist und gelebt hat. Bildbände über Deutschland und über Köln. Englische, französische und deutsche Romane. Und ein Buch, für das man kaum Sprache braucht: Der Weltfußball in bunten Graphiken.

Die Bibel und der Koran sind jeweils mehrfach vorhanden: Auf Deutsch und Farsi, Arabisch und Englisch stehen sie im Regal. Und dann die Bücher auf Arabisch: Übersetzungen von Asterix und Der kleine Prinz. Und natürlich original arabische Literatur: Lyrik und Geschichten. Die Erzählungen von Rafik Schami und ganz aktuell Der Spaziergänger von Aleppo, in dem Niroz Malek erzählt, warum er auch nach Jahren des Bürgerkriegs noch in Aleppo bleibt und wie es ist, dort zu leben, zu träumen und zu hoffen – trotz allem.

Wo es möglich war, haben wir die Bücher auf Deutsch und auf Arabisch angeschafft. Damit sie den einen ein Stück Heimatgefühl bringen und den anderen einen Einblick in die orientalische Lebenswelt ermöglichen.

Neue Bücher kommen bei Bedarf dazu. Und an ihnen sieht man besonders gut, wie sich die Gemeinschaft im WiNHaus entwickelt und – auch wenn es ein großes Wort ist – wie Integration gelingt: Die neuste Bestellung sind BWL- und Physik-Fachwörterbücher für die Geflüchteten, die sich inzwischen auf ihre Studienzulassung in Deutschland vorbereiten.

Text: Dorit Felsch