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Gottesdienst am CSD-Wochenende

Predigt / 03.07.2022 / 11:00

Josef ist ein ruhiger und verträumter junger Mann. So steht es im 1. Buch der Bibel. Er denkt sich Geschichten aus, träumt versonnen vor sich hin und bleibt bei den Zelten seiner Eltern Rachel und Jakob. Seine Brüder tollen lieber herum und suchen das Abenteuer. Als Jugendlicher muss Josef trotzdem zusammen mit seinen Brüdern Schafe hüten.

Sein Vater schätzt und liebt Josef besonders und schenkt ihm einen bunten Rock. Josef trägt den Rock des Vaters gerne und ist stolz darauf. Wenig später hat Josef zwei Träume, die davon handeln, dass sich zunächst seine Brüder, dann auch seine Eltern vor ihm verbeugen. Daraufhin werden seine Brüder immer wütender auf ihn.
Einige Zeit danach wird Josef zu seinen Brüdern aufs Feld gerufen. Als er dort ankommt, überwältigen sie ihn und schlagen ihn. Sie ziehen ihm seinen Rock aus und stoßen ihn in eine Grube. Später verkaufen sie ihn an einen Kaufmann, der mit einer Karawane an ihnen vorbeizieht. Dem Vater zeigen sie Josefs Rock, den sie vorher mit Tierblut beschmieren, und erklären Josef für tot.

Josef kommt als Sklave nach Ägypten, landet dort im Gefängnis und wird trotzdem später zum Vertrauten und Berater des Pharaos. Denn Josef hat eine besondere Gabe: Er kann Träume deuten. Oder anders formuliert:
Gott lässt ihn Dinge verstehen und wahrnehmen, die andere nicht erkennen. Indem der Pharao auf Josefs Auslegung seiner Träume hört, kann er sein Land wappnen und schützen in einer großen Hungersnot.

Gott lässt ihn Dinge verstehen und wahrnehmen, die andere nicht erkennen. Indem der Pharao auf Josefs Auslegung seiner Träume hört, kann er sein Land wappnen und schützen in einer großen Hungersnot.

Die Geschichte ist recht bekannt, es gibt sie als Musical und als Film. Doch ein Aspekt darin wird bislang selten deutlich:
Der Ausdruck, mit dem Josefs bunter Rock, den sein Vater ihm schenkt, auf Hebräisch beschrieben wird, benennt eigentlich ein Kleid, und zwar explizit das Kleid einer Königstochter, also einer Prinzessin. Josef trägt das Kleid einer Prinzessin. Ja, sein Vater, der Stammesvater Israels, schenkt ihm ein Prinzessinnenkleid als Ausdruck seiner Wertschätzung und Zuneigung. Josef ist ein Auserwählter Gottes in Frauenkleidern.

Diese Information passte nicht ins Männerbild der meisten Bibelgelehrten und Übersetzer. Entsprechend wurde das Wort anders übersetzt und dieser Teil der Erzählung oft vernachlässigt und verdrängt. Dabei liegt in dieser Tatsache – leider – auch eine Erklärung für die Brutalität der Brüder Josef gegenüber. Im biblischen Text wird mehr als einmal deutlich gemacht, dass Josef anders ist: ruhiger, verträumter, femininer. Kommt zur Eifersucht der Brüder die Angst vor dem dazu, was sie nicht verstehen? Grenzen sie sich vom Anderssein des Bruders ab?

Josef ist sensibel, voller Geschichten und Träume. Mit Freude gekleidet als Prinzessin. Anders als das Männerbild. Die Gewalt, die Josef widerfährt, kann man lesen als Teil der queerfeindlichen Gewalt, die bis heute andauert. In den letzten Wochen gab es sie immer wieder: gewaltvolle Übergriffe gegen queere Menschen, bis hin zu den tödlichen Schüssen vor einem Osloer Club.

Es gibt ein Gedicht zur biblischen Josefsgeschichte, verfasst vom amerikanischen Dichter J. Mase III, der sich selbst als transsexuell und queer bezeichnet. Darin heißt es:

„Joseph / Josephine / Jo, … du hast (das Kleid) mit Stolz getragen, offen, ohne Scham. Es tut mir leid, was dir danach geschehen ist. Jo, als deine Brüder dich im fließenden Kleid in all deinem Glanz gesehen haben, wurden sie wütend. Es tut mir so leid, dass du geschlagen wurdest.
Es tut mir so leid, dass du geblutet hast, dass sie dein Kleid zerrissen und es mit der roten Farbe deiner geschwollenen Venen beschmiert haben.“

Gewalt gegen Menschen, die den traditionellen Zuordnungen nicht entsprechen. Viel zu oft geschah und geschieht diese queerfeindliche Gewalt auch im Namen der Religion.

Dabei ist die Erkenntnis, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, gar nicht modern. Die jüdischen Gelehrten der Antike gehen ganz selbstverständlich von vier Geschlechtern aus. Und Gott selbst wird zwar in der von Männern geprägten Tradition überwiegend männlich gezeichnet, die biblischen Texte selbst geben aber ein ganz anderes Bild ab. Gott wird biblisch nicht nur als Vater, sondern auch als Mutter bezeichnet, als Amme oder im Bild eines Psalms als Mutter-Henne, die ihre Kinder-Küken unter ihren Flügeln schützt und wärmt.

Schon am Anfang der Bibel in der ersten Schöpfungsgeschichte heißt es: „Gott schuf den Menschen zu seinem/zu ihrem Bilde: Männlich und weiblich schuf er sie.“ Von Anfang an ist klar: Gott ist beides. Männlich und weiblich. Alle Menschen sind zum Bilde Gottes geschaffen – alle. Wie sie sind. Mit männlichen und weiblichen Anteilen.
Und auch im Johannesevangelium gibt es einen Satz, der nur ganz selten so übersetzt wird, wie er da wirklich steht. Da heißt es nämlich, Jesus, als der eingeborene Gottessohn ist im „Mutterschoß des Vaters“ gewesen. Ja, genau das steht da. Man könnte auch in der „Gebärmutter des Vaters“ übersetzen. Gott als Vater hat einen Mutterschoß.

Nicht alle Menschen mit Gebärmutter sind Frauen. Nicht alle Frauen haben Gebärmütter. Auch das sind Dinge, die in aktuellen Debatten immer wieder bestritten werden. Dabei könnte es so einfach sein: So wie sich in Gott selbst die Väterlichkeit und die Mütterlichkeit, die Männlichkeit und die Weiblichkeit verbinden, so auch in den Menschen: in allen denkbaren Weisen und Mischverhältnissen.

Gott selbst sprengt die Grenzen einer angeblichen Zweigeschlechtlichkeit, überwindet sie. Gott selbst ist – wenn man denn so will – queer. Ist genderfluid, ist divers.

So divers wie die Menschen, die zu Gottes Bilde geschaffen sind, einen Funken Gottes in sich tragen. So divers wie natürlich auch die Gesandten Gottes, die Prophet:innen, die, die durchs Träume-Deuten mit Gottes Stimme sprechen.

Irgendwann begegnet Josef seinen Brüdern wieder. Sie wollen Getreide vom Pharao kaufen, da die Hungersnot auch bei ihnen angekommen ist. Josef erkennt seine Brüder sofort und gibt sich irgendwann auch selbst zu erkennen. Die Brüder erschrecken und fürchten seine Rache.

Doch Josef kann ihnen vergeben. Mit seinen Brüdern und seinem Vater feiert er ein großes Fest.
Die Brüder sind unsicher, überrascht von Josefs Gastfreundschaft, dankbar für seinen Großmut. Und auf einmal können sie Josef so sehen, wie er – oder sie – wirklich ist und wie Gott ihn – oder sie – schon die ganze Zeit sieht: klug, feinfühlig, erfolgreich und anders als die anderen.
Nicht die Viehzucht ist seine Stärke, sondern Zuhören, Nachspüren, Intuition. Josef ist nicht besser und nicht schlechter als die Brüder, sondern anders. Vielleicht würde er sich heute als Transgender bezeichnen, vielleicht als gender-fluid, als nicht-binär, als männlich und weiblich zugleich oder als weder noch.
Sicher ist, dass er die traumatische Situation von Verrat, Heimatverlust und Exil erleben musste und überlebt hat. Im fremden Land hat er sich eine neue Existenz aufgebaut. Die ganze Zeit begleitet von Gott.

Der Dichter J. Mase III. bezieht Josefs Geschichte auf sein eigenes Leben und interpretierte das Ende der biblischen Geschichte so:
„Joseph / Josephine / Jo, deine Liebe hat die Dunkelheit der Vorbehalte durchbrochen. Und zum ersten Mal hat dich deine Familie so gesehen, wie du bist, so wunderbar. Denn du warst es, der die Menschen vor’m Hunger gerettet hat.
Lieber Joseph der Genesis, Josephine, Jo, ich beanspruche deine Geschichte für jedes schwul-lesbische, queere Kind, dem erzählt wird, dass es unheilig sei, für jede schwul-lesbisch-queere Person, der erzählt wird: wenn du leben willst, musst du deinen Glauben sterben lassen.“

Josefs Geschichte ist auch eine queere Geschichte. Sie erzählt von der brutalen Gewalt und der schmerzvollen Ablehnung durch die eigene Familie.
Sie erzählt aber auch davon, dass Gott nicht nur auf der Seite der Diskriminierten und Unterdrückten ist, sondern ihnen manchmal vielleicht sogar besonders nah. Es gibt bei Gott einen sicheren Ort für Josef, Josefine, Jo. Und es ist mehr als höchste Zeit, dass es diesen Ort auch sonst überall gibt: in jedem Teil des Lebens und ganz sicher in der Kirche.

Amen

Predigt: Miriam Haseleu und Dorit Felsch
Übersetzung des Gedichts aus dem Englischen und Teile der Auslegung der Josefsgeschichte nach Kerstin Söderblom, Mainz